Kernenergie - keine Risikotechnologie?
Der Bericht des »Joint Research Centre« (JRC), der im Auftrag der Europäischen Kommission prüfen sollte, ob die Kernenergie keinen »signifikanten Schaden« für Mensch und Umwelt verursachen kann, betrachtet wesentliche Risiken wie die Gefahr katastrophaler Unfälle sowie die Verbreitung von Kernwaffen nicht in der notwendigen Tiefe. Die Schlussfolgerung des JRC, nämlich dass die Kernenergie keinen erheblichen Schaden verursache und daher als »nachhaltige« Technologie zur Bekämpfung des Klimawandels durch die EU gefördert werden könne, ist, wie die Analyse des Öko-Instituts zeigt, nicht zulässig. Allein wenn man das Risiko schwerer Unfälle betrachtet, wird deutlich, dass ein »signifikanter Schaden« nicht ausgeschlossen werden und die Kernenergie deshalb nicht als »nachhaltig« eingestuft werden kann.
Zu diesem Schluss kommt eine Analyse des Öko-Instituts, das für die Heinrich-Böll-Stiftung Europäische Union die wichtigsten Argumente des JRC-Berichts geprüft hat. In einem Policy Paper betrachteten die Wissenschaftler das Risiko schwerer Unfälle und die Verbreitung von Kernwaffen – eine dritte Kategorie, die Entsorgung nuklearer Abfälle, wurde von Ben Wealer von der Technischen Universität Berlin analysiert.
Folgen schwerer Unfälle nicht ausreichend betrachtet
Für die Bewertung, welche Gefahren von Kernkraftwerken in der Folge schwerer Unfälle ausgehen können, hat das JRC nur unzureichend Daten und Auswertungen herangezogen. So hat es nur sehr wenig wissenschaftliche Literatur ausgewertet und nur wenige Indikatoren zur Bewertung des Risikos herangezogen. Dazu gehören etwa die maximale Zahl der Todesopfer und die Todesrate – andere wichtige Indikatoren wie die Zahl der evakuierten oder umgesiedelten Menschen, die über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte kontaminierte Fläche oder die wirtschaftlichen Folgen eines schweren Unfalls wurden nicht erörtert.
»Die Ausführungen des JRC zu diesen wichtigen Fragen reichen nicht aus, um das Risiko schwerer Unfälle fundiert zu bewerten«, fasst Dr. Christoph Pistner Leiter des Institutsbereichs Nukleartechnik und Anlagensicherheit zusammen. »Wir haben erst in der jüngsten Vergangenheit gesehen, dass schwere Unfälle in Kernkraftwerken vorkommen können und dass sie erhebliche Folgen für die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben.«
Risiken der Verbreitung von Kernwaffen nicht berücksichtigt
Die Nukleartechnologie kann sowohl für die friedliche Energieerzeugung als auch für militärische Zwecke, also zur Herstellung von Kernwaffen, genutzt werden. Der JRC-Bericht berücksichtigt jedoch die Verbreitung von Kernwaffen, Kernwaffentechnologie sowie spaltbarem Material (kurz: »Proliferation«) praktisch gar nicht. Vielmehr umgeht er die komplexe Geschichte der Proliferation, verweist auf bestehende Kontrollsysteme mit internationalen Verträgen und thematisiert nicht die tatsächlich verbleibenden Risiken einer militärischen Nutzung von ziviler Kerntechnik.
»Jeder Einsatz von Kernwaffen hätte katastrophale Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt«, mahnt Dr. Matthias Englert, Nuklear-Experte am Öko-Institut und Co-Autor der Studie. »Eine Diskussion über die Gefahren der Kernenergie, in der die Proliferation fehlt, ist daher unvollständig und lässt keine ausreichenden Rückschlüsse für die weitere politische Bewertung zu.«
Taxonomie-Regulierung der Europäischen Kommission
Die Taxonomie-Verordnung der Europäischen Union zielt darauf ab, Investitionen in eine nachhaltige und klimafreundliche Wirtschaft zu lenken. Dafür legt die Europäische Kommission Kriterien fest, nach denen Technologien als umweltfreundlich gelten und etwa durch die EU gefördert werden können. Dazu gehören beispielsweise Technologien, die den Klimawandel abschwächen oder zur Anpassung beitragen, etwa erneuerbare Energien.
Zur Frage, ob die Kernenergie den Nachhaltigkeitskriterien genügt, hatte die eingesetzte Technische Expertengruppe (»Technical Expert Group«, TEG) zunächst festgestellt, dass eine abschließende Bewertung nicht möglich sein. Offene Fragen sollten in der Folge durch den wissenschaftlichen Dienst der EU-Kommission, also das »Joint Research Centre«, beantwortet werden, der im März 2021 den hier diskutierten Abschlussbericht vorlegte.